Rundum-Schutz
Wie Grundschullehrerin Julia Wittig zur besten Eisschwimmerin der Welt wurde. Und was Einsteiger beachten müssen.
Julia Wittig steigt die Sprossen der Leiter in den Wöhrsee in Burghausen hinab. Das Wasser ist fast schwarz, das Thermometer zeigt drei Grad. Das ist der Moment der absoluten Konzentration. Der Moment, in dem der Körper einen Kälteschock erfährt.
Jedes Mal, auch nach Tausenden Wassergängen. Der Körper gewöhnt sich nicht an die Kälte, er schaltet auf Überlebensmodus, das Blut zieht sich ins Körperinnere, Fußspitzen und Fingerkuppen werden taub. Julia Wittig weiß, was sie jetzt tun muss. Ruhig bleiben, tief atmen. Sie ist in diesen Momenten komplett bei sich, sie denkt an nichts anderes. Ihr Kopf muss den Körper überwinden.
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Julia Wittig steigt bis zur Schulter ins Wasser, hält sich mit einer Hand an der Leiter fest. Dann stößt sie sich ab und zieht ihre Bahnen. 40 Bahnen über 25 Meter: in knapp 15 Minuten. Julia Wittig ist Extremsportlerin, die 42-Jährige ist die beste Eisschwimmerin der Welt, sie hat gerade ein Buch über ihre Leidenschaft geschrieben*. Sie sagt: „Die Kälte ist eine Macht. Es ist immer eine Überwindung, die Freude kommt erst hinterher.“
Eisschwimmen wird immer beliebter. Wenige Sportarten sind derart simpel und intuitiv und kosten dennoch solche Überwindung. Während beim Eisbaden Menschen kurz und oft nur bis zur Schulter in Eislöcher steigen, ziehen Eisschwimmer Bahnen im Becken. 25 und 1.000 Meter sind die klassischen Strecken, wesentlich länger sollten auch Spitzenathleten auch nicht im Wasser bleiben, das laut Reglement nicht wärmer als 5 Grad sein darf.
Julia Wittig war früher Leistungsschwimmerin, Dritte bei Deutschen Meisterschaften, Jahrgangsbeste, Weltspitze war sie nie. Das ist sie jetzt. Sie wurde im Jahre 2017 Weltmeisterin über 1000 Meter und stellte bei dieser Distanz Weltrekorde auf. Ihre Bestzeit liegt bei 13:07 Minuten. Ohne Startsprung, ohne Rollwenden. Außerdem schaffte sie die sogenannte Eismeile über 1609,3 Metern in 21:33 Minuten, so schnell wie keine Frau zuvor. Dieser Weltrekord brachte ihr einen Eintrag ins Guinnessbuch der Rekorde 2021 ein.
2014 begann Julia Wittig mit dem Eisschwimmen. Sie, inzwischen Grundschullehrerin und gerade Mutter geworden, spazierte mit einer Freundin rund um den Wöhrsee, als sie dort einen Mann durchs kalte Wasser schwimmen sah. Eisschwimmer. Die Freundin war Nicole Hetzer, eine ehemalige Olympia-Schwimmerin, der Eisschwimmer war Christof Wandratsch, Extremsportler und als Durchschwimmer des Ärmelkanals bekannt für heikle Abenteuer.
Die beiden Frauen ließen sich überreden. Nicole Hetzer holte sich eine Erkältung, und Julia Wittig entdeckte ihre neue Leidenschaft. Heute ist sie ein Aushängeschild des Eisschwimmvereins Serwus Burghausen. Und Nicoles Vater, Stefan Hetzer, in der DDR einst Trainer von Schwimm-Legende Kristin Otto, ist ihr Trainer. Serwus Burghausen ist einer der erfolgreichsten Eisschwimmvereine der Welt. Bei der Weltmeisterschaft 2020 in Bled, Slowenien, holten die Schwimmer 14 Weltmeistertitel, 17 Vizeweltmeistertitel und 18 dritte Plätze. Alleine Wittig holte sieben Goldmedaillen.
„Burghausen ist das Mekka für Eisschwimmer in Deutschland“, sagt Wittig. Der Verein hat die Sportart und das Training über die Jahre studiert und verfeinert. Eine Erkenntnis für Trainer Hetzer: „Wir wollen nicht extremer werden und zum Beispiel längere Strecken schwimmen. Das ist zu riskant und ungesund.“ Die Bedingungen in Burghausen sind ideal. Im Wöhrseebad sind zwischen den Stegen die Linien der 25-Meter-Bahnen gespannt. Oben drüber thront mehr als einen Kilometer lang – genau 1051 Meter – die weltlängste Burganlage. Alleine diese Kulisse zieht Neugierige an, der Zulauf an Freizeitsportlern ist enorm. Beinahe täglich kommen Menschen ins Wöhrseebad, die einmal ins kalte Wasser steigen wollen.
Auch wenn der Weg dorthin eine Überwindung für Kopf und Körper ist, der Einstieg ins Eisschwimmen hat keine großen Hürden. Badesachen reichen, zusätzlich empfehlen sich Mütze und Badeschuhe, Profis wie Julia Wittig tragen zudem Ohrenstöpsel gegen die Kälte und eine Nasenklammer. Eine wichtige Grundregel lautet: Nie unbegleitet ins Eiswasser gehen.
Eisschwimmen kann sich auf das Immunsystem positiv auswirken. Julia Wittig etwa beteuert, seit Jahren nicht mehr krank gewesen zu sein. Dennoch bedarf es einer gewissenhaften Vorbereitung. Es ist eben kein Jux. „Man muss sich genau konzentrieren, wenn man ins Wasser steigt“, sagt Trainer Hetzer, der erst mal dazu rät, nur einen Fuß ins Wasser zu halten. Wer dabei sofort zurückschreckt, sei mental offenbar nicht bereit und breche lieber ab.
Ein großes Aufwärmen vor dem Schwimmen ist nicht sinnvoll, der Körper sollte nicht zu warm sein. Er sollte sich beim Ausziehen an die Kälte gewöhnen. Wichtig sei dann ein zügiges Hinabsteigen ins Wasser. „Ich denke immer nur an den nächsten Schritt, nie an das große Ganze“, sagt Wittig selbst nach ungezählten Wassergängen.
Für den Anfang reichen in der Regel ein paar Schwimmzüge oder maximal 25 Meter am Stück. Danach folgt das Aufwärmen, das der Körper ganz intuitiv übernimmt. Je nach Schwimmdauer beginnen die Muskeln Minuten nach dem Schwimmen sich zusammenzuziehen und sich so wieder zu erwärmen.
In Burghausen setzen sich die Eisschwimmer manchmal in einen Holzzuber mit warmem Wasser. Doch auch dort muss man aufpassen. Zu schnelles Aufwärmen, etwa auch heißes Duschen, ist laut Trainer Hetzer ungesund: Es verstört den Körper aufs Neue.
Besser ist ein langsames Warmwerden. So gibt es in Burghausen neben den Umkleidekabinen auch zwei Infrarotkabinen für das anschließende Aufwärmen. Nach ihrer 15-minütigen Schwimmeinheit sitzt Julia Wittig in Winterklamotten in der Kabine. Etwa fünf Minuten nachdem sie aus dem eiskalten See gestiegen ist, beginnt ihr ganzer Körper zu zittern. Dieser Zustand hält ungefähr eine Viertelstunde an. Noch einmal Schwerstarbeit für den Körper nach dem Wassergang. Danach lacht Julia Wittig auf. Ein tiefes Glücksgefühl stellt sich ein. Manchmal muss man eben etwas warten.
Im Februar sollen in Polen die nächsten Weltmeisterschaften stattfinden. Julia Wittig hat sich nicht angemeldet. Sie hat in den vergangenen Monaten nicht genug trainiert, um ganz vorne mitschwimmen zu können. Die Kondition sammelt sie normalerweise das Jahr über im warmen Hallenbad. Wegen Corona und als temporäre Schulleitung ihrer Grundschule konnte sie ihr Schwimmpensum nicht absolvieren. Und nur mitzuschwimmen, ohne ganz vorne dabei zu sein, will sie nicht. Auch Extremsport ist am Ende Sport.
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